Betriebliche Übung

1. Begriff

Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG wird unter einer betrieblichen Übung ein gleichförmiges und wiederholtes Verhalten des Arbeitgebers verstanden, das den Inhalt der Arbeitsverhältnisse gestaltet und geeignet ist, vertragliche Ansprüche auf eine Leistung zu begründen, wenn  die Arbeitnehmer aus Verhalten des Arbeitgebers schließen durften, ihnen werde eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer also auch künftig gewährt werden

(BAG, Urteil vom 27.6.2001, 10 AZR 488/00; BAG, Urteil vom 29.5.2002, 5 AZR 370/01; BAG, Urteil vom 23.4.2002, 3 AZR 224/01; BAG, Urteil  vom 14. 09. 1994; BAG, Urteil vom 21. 01. 1997 - 1 AZR 572/96; BAG, Urteil vom 13. 03. 2002 - 5 AZR 755/00; BAG, Urteil vom 16. Juli 1996 - 3 AZR 352/95 - AP BetrAVG § 1 Betriebliche Übung Nr. 7 = EzA BetrAVG § 1 Betriebliche Übung Nr. 1, zu B I und II der Gründe

 

2. Rechtliche Qualität

Die betriebliche Übung ist demnach ein Rechtsinstitut des Arbeitsrechts. Einer ausdrückliche Regelung in Gesetz, Tarifvertrag,  Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag bedarf die betriebliche Übung nicht, da sie sonst keine „betriebliche Übung“ mehr, sondern eine konkrete normative Regelung wäre. Ihr Charakteristikum besteht gerade darin, dass durch eine übliche Handhabung im Betrieb entsteht und sich unter bestimmten Voraussetzungen zu einer rechtlichen Bindung verfestigt, die dann den Inhalt der einzelnen Arbeitsverhältnisse gestaltet

(BAG, Urteil vom 29.5.2002, 5 AZR 370/01).

3. Voraussetzungen der Entstehung

Die betriebliche Übung setzt voraus, dass eine bestimmte betriebliche Praxis den Schluss erlaubt, der Arbeitgeber wolle sich vertragsrechtlich in bestimmter Weise binden

(BAG, Urteil vom 29.5.2002, 5 AZR 370/01; BAG, Urteil  vom 14. 09. 1994; BAG, Urteil vom 21. 01. 1997 - 1 AZR 572/96; BAG, Urteil vom 13. 03. 2002 - 5 AZR 755/00).

Sie gründet sich auf eine Willenserklärung des Arbeitgebers, die von den Arbeitnehmern gemäß § 151 Satz1 BGB konkludent angenommen wird; dadurch entstehen arbeitsvertragliche Ansprüche der Arbeitnehmer auf die im Betrieb üblich gewordenen freiwillige Sonderleistungen des Arbeitgebers.

 

Für die Begründung eines solchen Anspruchs aus betrieblicher Übung kommt es dabei nicht darauf an, ob der Arbeitgeber sich tatsächlich verpflichten wollte. Vielmehr ist für die Frage, ob eine für den Arbeitgeber bindende betriebliche Übung auf Grund der Gewährung von Leistungen an seine Arbeitnehmer entstanden ist, maßgebend und daher auch danach zu beurteilen, inwieweit die Arbeitnehmer aus dem Verhalten des Arbeitgebers unter Berücksichtigung von Treu und Glauben sowie der Verkehrssitte gemäß § 242 BGB und der Begleitumstände auf einen Bindungswillen des Arbeitgebers schließen durften

(BAG vom 26. 03. 1997 - 10 AZR 612/96; BAG, Urteil vom 25.7.2001, 10 AZR 758/00; BAG, Urteil vom 26. 05. 1993 - 4 AZR 130/93 - BAGE 73, 191; BAG, Urteil vom 07. 05. 1986 - 4 AZR 556/83 - BAGE 52, 33, 49; BAG, Urteil vom 03. 08. 1982 - 3 AZR 503/79 - BAGE 39, 271, 276; BAG, Urteil vom 4. 05. 1999 - 10 AZR 290/98 - BAGE 91, 283).

 

Grundsätzlich kommt es zwar bei der Entstehung einer betrieblichen Übung nicht auf die subjektiven Vorstellungen des Arbeitgebers an. Eine irrtümliche Leistung des Arbeitgebers kann eine betriebliche Übung aber dann nicht begründen, wenn der Arbeitnehmer aus den Umständen den Irrtum erkennen konnte

(BAG 26. Mai 1993 - 4 AZR 130/93 ).

 

4. Dogmatische Herleitung

Ihre dogmatische Begründung findet die betriebliche Übung in der von BAG und herrschender Lehre favorisierten Vertragstheorie, wonach in der regelmäßigen Wiederholung eines bestimmten Verhaltens des Arbeitgebers ein, ggf. konkludentes, Vertragsangebot an jeden einzelnen der betroffenen Arbeitnehmer liegen kann. Ist ein entsprechendes Verhalten des Arbeitgebers als ein Angebot zu qualifizieren, so können die Arbeitnehmer dieses, durch schlüssiges Verhalten (konkludent), annehmen, ohne dass es einer ausdrücklichen Annahmeerklärung bedarf

(vgl. § 151 Satz1 BGB).

 

5. Wirkung

Dadurch wird ein vertragliches Schuldverhältnis geschaffen, aus dem bei Eintritt der vereinbarten Anspruchsvoraussetzungen ein einklagbarer Anspruch auf die üblich gewordene Vergünstigung erwächst. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber mit einem entsprechenden Verpflichtungswillen gehandelt hat. Die Wirkung einer Willenserklärung oder eines bestimmten Verhaltens tritt im Rechtsverkehr schon dann ein, wenn der Erklärende aus der Sicht des Erklärungsempfängers einen auf eine bestimmte Rechtswirkung gerichteten Willen geäußert hat

Die betriebliche Übung kann Rechte und u.U. auch Pflichten des Arbeitnehmers begründen. Allerdings hat die begünstigende betriebliche Übung stets im Vordergrund zu sein. 

6. Anwendungsbereich

Die betrieblichen Übung als Anspruchsgrundlage kommt typischer Weise in dem Bereich von freiwilligen Sonderleistungen des Arbeitgebers vor. So kann eine Bindung des Arbeitgebers durch betriebliche Übung insbesondere bei Gratifikationen oder auch bezüglich Einmalleistungen im Rahmen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehen oder bei Versorgungszusagen, wie z.B. beider  betrieblichen Altersversorgung. In diesem Bereich der betrieblichen Altersversorgung ist die betriebliche Übung zudem als Rechtsquelle vom Gesetzgeber ausdrücklich anerkannt

(§ 1 Abs. 1 Satz 4 BetrAVG).

Die betriebliche Übung begründet einen Anspruch der Arbeitnehmer auf die freiwillige Sondervergütung, die der Arbeitgeber in der Vergangenheit mehrfach an ihnen gezahlt hat. Dieser Anspruch ist auch auf künftige Leistungen des Arbeitgebers gerichtet

(BAG, Urteil vom 27.6.2001, 10 AZR 488/00; BAG 18. Juli 1968 - 5 AZR 400/67; Seiter Die Betriebsübung S 80 f., 134; MünchArbR/Richardi 2. Auflage § 13 Rn. 22).

 

 

7. Aufheben der betrieblichen Übung

Eine seit Jahren im Betrieb, Unternehmen oder Konzern praktizierte betriebliche Übung kann unter bestimmten Voraussetzungen aufgehoben werden.

Sie kann u.a. auch durch eine geänderte betriebliche Übung aufgehoben werden

(BAG, Urteil vom 27.6.2001, 10 AZR 488/00; BAG 4. Mai 1999 - 10 AZR 290/98; BAG vom 26. März 1997 - 10 AZR 612/96; BAG vom 14. August 1996 - 10 AZR 69/96 - AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 47 = EzA BGB § 611 Gratifikation, Prämie Nr. 144; 18. Juli 1968 - 5 AZR 400/67),

indem der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer ein verschlechterndes Änderungsangebot unterbreitet. Der Arbeitnehmer muss dann allerdings diesen Angebot, auch wenn er nunmehr ungünstiger ist

annehmen. Von einer Annahmeerklärung des Arbeitnehmers ist nicht nur dann die Rede, wenn der Arbeitnehmer ausdrücklich sein Einverständnis erklärte, sondern auch, wenn der Arbeitgeber nach Treu und Glauben und nach der Verkehrssitte das Schweigen des Arbeitnehmers als Zustimmung zu der geänderten betrieblichen Übung ansehen durfte.

Das Schweigen des Arbeitnehmers darf der Arbeitgeber nur dann als Zustimmung zu der geänderten betrieblichen Übung ansehen, wenn er davon ausgehen darf, der Arbeitnehmer werde der Änderung widersprechen, wenn er mit dieser nicht einverstanden sei. Dies korsospendiert mit der Regel bei der Begründung eines Anspruchs aus betrieblicher Übung, wonach es nicht auf einen tatsächlich vorhandenen Verpflichtungswillen des Arbeitgebers ankommt, soweit der Arbeitnehmer

aus dem Verhalten des Arbeitgebers unter Berücksichtigung von Treu und Glauben sowie der Verkehrssitte gemäß § 242 BGB und der Begleitumstände auf einen Bindungswillen des Arbeitgebers schließen durfte, ihm werde eine Leistung oder Vergünstigung auch künftig gewährt.

(BAG, Urteil vom 27.6.2001, 10 AZR 488/00).

 

8. Rechtssprechung

BAG, Urteil vom 27.6.2001- 10 AZR 488/00 -   Betriebliche Übung - Trennungsentschädigung bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis Betriebsvereinbarung; Rechtskontrolle der Ablösungsregelung

BAG, Urteil vom 27.6.2001 - 10 AZR 488/00 -  Betriebliche Übung - Trennungsentschädigung bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis

BAG, Urteil vom 25.7.2001- 10 AZR 758/00 - Nachtarbeitszuschlag - betriebliche Übung

 

BAG, Urteil vom 22.1.2002 - 3 AZR 554/00 -   Konzernbetriebsvereinbarung - betriebliche Übung

BAG, Urteil vom 23.4.2002 - 3 AZR 224/01-    Betriebliche Übung, hier: Verhältnis zur Versorgungsordnung

BAG, Urteil vom 29.5.2002 - 5 AZR 370/01 -   Betriebliche Übung - Pauschale Überstundenvergütung

BAG, Urteil vom 25.6.2002 - 3 AZR 360/01 -   Betriebliche Altersversorgung: Betriebliche Übung - Voraussetzungen, Inhalt und Auslegung

BAG, Urteil vom 10.12.2002 - 3 AZR 671/01 - Betriebliche Altersversorgung: Gesamtzusage, betriebliche Übung und ablösende

BAG[S1] , Urteil vom 06. 09. 1994 - 9 AZR 672/92-               Betriebliche Übung - Rosenmontag, Heiligabend, Silvester als

Sonderurlaub –

BAG, Urteil vom 4.9.1985 - 7 AZR 262/83 - Gehaltserhöhungsanspruch aus betrieblicher Übung

 

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 [S1]Ein rechtlich geschütztes Vertrauen der Arbeitnehmer in eine dauerhafte Verpflichtung des

Arbeitgebers, künftig stets an Heiligabend Arbeitsbefreiung zu gewähren, kann nicht entstehen,

wenn die Maßnahme von Jahr zu Jahr neu unter dem Vorbehalt angekündigt wird, daß diese

Regelung nur für das laufende Jahr gelte

(Anschluß an BAG Urteil vom 12. Januar 1994 - 5 AZR 41/93 -)