Bildungsurlaub

(siehe: ILO-Übereinkommen Nr. 140, Denkschrift, BT-Drucks. 7/4766, S. 11 f.; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 7/5355, S. 3).

 

Zur Verfassungsmäßigkeit der Gesetze über bezahlten Bildungsurlaub / Vereinbarkeit mit GG Art 12 und Art 3.

Fraglich ist, ob die Verpflichtung der Arbeitgeber, ihre Arbeitnehmer auf Antrag für Zwecke der Weiterbildung unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts von der Arbeitspflicht freizustellen

(bzw. ob das nordrhein-westfälische Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz (AWbG) und das Hessischen Gesetz über den Anspruch auf Bildungsurlaub (HessBUG))

mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Der Bildungsurlaub soll der politischen und beruflichen Weiterbildung dienen.

Die einschlägigen Landesgesetze gestalten in den dden Bildungsurlaub regelden Normen wechselseitige Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis. Dies sind Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, und zwar unabhängig davon, ob die bezahlte Freistellung der beruflichen oder der politischen Weiterbildung dient. Der Sachzusammenhang mit dem Arbeitsrecht geht nicht dadurch verloren, daß die beanstandeten Vorschriften neben einem Interessenausgleich am Arbeitsplatz auch private Belange des Arbeitnehmers mitberücksichtigen.

Die Arbeitnehmerweiterbildung ist im Unterschied zur Berufsbildung im Sinne des Berufsbildungsgesetzes nicht primär beruflich orientiert (vgl. Kemp, Stichwort "Weiterbildung", in: Schlüsselwörter zur Berufsbildung, 1977, Hrsg.: Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung, S. 391). Berufsbildung und Bildungsurlaub für Arbeitnehmer sind jeweils eigenständige Regelungsmaterien. Die überbetrieblich ausgerichtete Arbeitnehmerweiterbildung strebt die Verklammerung von beruflicher und politischer Weiterbildung an. Sie dient in erster Linie der Persönlichkeitsentwicklung des Arbeitnehmers und weniger dem Erlernen konkret berufsbezogener Fertigkeiten und Kenntnisse. Auch der Bundesgesetzgeber ist augenscheinlich von der Eigenständigkeit der Arbeitnehmerweiterbildung ausgegangen, als er sieben Jahre nach Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes das ILO-Übereinkommen Nr. 140 ratifizierte und dabei die Einführung von bezahltem Bildungsurlaub erwog

(Denkschrift, BT-Drucks. 7/4766, S. 11 f.; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 7/5355, S. 3).

 

§ 616 Abs. 1 BGB ist kein abschließender Auffangtatbestand für alle nicht spezialgesetzlich geregelten Fälle der bezahlten Arbeitnehmerfreistellung. Die Norm regelt nur die Vergütungspflicht für vorübergehende Dienstverhinderungen. Damit ist nicht die vom Arbeitnehmer gezielt beanspruchte Teilnahme an einer Weiterbildungsveranstaltung berührt, sondern allein der Fall gesetzlich geklärt, wie zu verfahren ist, wenn der Arbeitnehmer durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden in die Lage gerät, nicht arbeiten zu könne.

 

Die den Arbeitgebern gesetzlich auferlegten Freistellungs- und Entgeltfortzahlungspflichten für Arbeitnehmer, die an Bildungsveranstaltungen teilnehmen, sind durch Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt. Unter den Bedingungen fortwährenden und sich beschleunigenden technischen und sozialen Wandels wird lebenslanges Lernen zur Voraussetzung individueller Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Anpassungsfähigkeit im Wechsel der Verhältnisse. Dem Einzelnen hilft die Weiterbildung, die Folgen des Wandels beruflich und sozial besser zu bewältigen. Wirtschaft und Gesellschaft erhält sie die erforderliche Flexibilität, sich auf veränderte Lagen einzustellen. Da bei Arbeitnehmern die Bereitschaft zur Weiterbildung schon wegen der begrenzten Verfügung über ihre Zeit und des meist engeren finanziellen Rahmens nicht durchweg vorausgesetzt werden kann, liegt es im Interesse des Allgemeinwohls, die Bildungsbereitschaft dieser Gruppe zu verbessern. Unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls begegnet es auch keinen Bedenken, daß Bildungsurlaub nicht nur für berufsbildende, sondern auch für politisch bildende Veranstaltungen vorgesehen ist. Der technische und soziale Wandel bleibt in seinen Auswirkungen nicht auf die Arbeits- und Berufssphäre beschränkt. Er ergreift vielmehr auch Familie, Gesellschaft und Politik und führt zu vielfältigen Verflechtungen zwischen diesen Bereichen. Daraus ergeben sich zwangsläufig Verbindungen zwischen beruflicher und politischer Bildung, die der Gesetzgeber bei der Verfolgung seines Ziels berücksichtigen durfte. Es liegt daher im Gemeinwohl, neben dem erforderlichen Sachwissen für die Berufsausübung auch das Verständnis der Arbeitnehmer für gesellschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge zu verbessern, um damit die in einem demokratischen Gemeinwesen anzustrebende Mitsprache und Mitverantwortung in Staat, Gesellschaft und Beruf zu fördern.

Die Freistellungs- und Entgeltfortzahlungspflichten der Arbeitgeber sind daher geradezu geeignet, die Bereitschaft von Arbeitnehmern zur Teilnahme an Bildungsveranstaltungen zu erhöhen. Sie erlauben ihnen die Weiterbildung ohne größere Einbußen an Freizeit und Arbeitslohn und räumen damit erhebliche Hindernisse für die Beteiligung an Bildungsprogrammen aus.

Die Freistellung der Arbeitnehmer unter Fortzahlung des Entgelts ist auch erforderlich, um ihre Bildungsbereitschaft zu erhöhen. Eine Verlegung der Bildungsveranstaltungen in die arbeitsfreien Zeiten des Feierabends oder des Wochenendes würde zwar das Grundrecht der Arbeitgeber aus Art. 12 Abs. 1 GG schonen, könnte aber weder quantitativ noch qualitativ die gleiche Wirkung erzielen. Nach den bisherigen Erfahrungen wären nicht nur die Teilnehmerzahlen, sondern auch die Bildungserfolge geringer. Diese hängen nämlich zu einem Gutteil von der Aufnahmefähigkeit der Teilnehmer und der zeitlichen Konzentration der Programme ab, die bei Wochenend- oder Feierabendveranstaltungen nicht in gleichem Maße gewährleistet wären. Von einer wesentlich geringeren Beteiligung müßte auch dann ausgegangen werden, wenn der Arbeitnehmer für die Zeit des Bildungsurlaubs auf seinen Lohn zu verzichten hätte.

 

Kosten

Ob die Kosten der hiernach erforderlichen Lohnfortzahlung vom Arbeitgeber zu tragen sind, ist dagegen keine Frage der Erforderlichkeit, sondern der Zumutbarkeit der gesetzlichen Regelung.

 

Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung der Arbeitgeber

Der Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung der Arbeitgeber steht nicht außer Verhältnis zu dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck.

 

Nach den vertretbaren Annahmen der Landesgesetzgeber über die Inanspruchnahme des Bildungsurlaubs sind unzumutbare Kostenlasten für die Arbeitgeber nicht zu erwarten.

Bei der Auferlegung der Lasten durfte der Gesetzgeber auch berücksichtigen, daß die Weiterbildung der Arbeitnehmer nicht nur diesen, sondern ebenso der Innovationsfähigkeit der Wirtschaft zugutekommt. Weiterhin durfte er in Erwägung ziehen, daß der Arbeitgeber zur Wertschöpfung und zur Erreichung des Unternehmenszweckes regelmäßig der Mitwirkung seiner Arbeitnehmer bedarf (vgl. BVerfGE 50, 290 [349]). Er durfte ferner in Rechnung stellen, daß der Arbeitnehmer zur Existenzsicherung in der Regel seine volle Arbeitskraft einsetzen muß und daß dies infolge der zeitlichen Bindung seine persönlichen Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten im beruflichen und politischen Bereich als Bestandteil der Persönlichkeitsentfaltung beschneidet.

 

Bildungsurlaub mit Grenzen und Einschränkungen

Die angegriffenen Gesetze enthalten zudem Einschränkungen, welche in ihrer Gesamtheit die Interessen der Arbeitgeber und ihrer Unternehmen angemessen berücksichtigen. Damit haben die Landesgesetzgeber den konkurrierenden Grundrechtspositionen der Arbeitsvertragspartner aus Art. 12 Abs. 1 GG ausgewogen Rechnung getragen. Die Landesgesetzgeber haben die Dauer des allgemeinen Bildungsurlaubs für Arbeitnehmer auf eine Arbeitswoche im Kalenderjahr begrenzt (§ 2 Abs. 1 HBUG, § 3 Abs. 1 und Abs. 2 AWbG); sie sind an der unteren Grenze der Forderungen für eine sinnvolle, pädagogisch und organisatorisch erfolgversprechende Ausrichtung von Bildungsurlaubsveranstaltungen geblieben (vgl. dazu Beer, Bildungsurlaub, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Band 126, 1978, S. 134). Weiterhin ermöglichen es gesetzlich verankerte Mitteilungspflichten des Arbeitnehmers (§ 5 Abs. 1 Satz 1 HBUG, § 5 Abs. 1 AWbG), dass der Arbeitgeber frühzeitig Vorkehrungen gegen Betriebsablaufstörungen trifft.

Namentlich die in § 5 Abs. 1 Satz 2 HBUG, § 5 Abs. 2 Satz 1 AWbG aufgenommenen Leistungsverweigerungsrechte des Arbeitgebers setzen gewichtige Schranken für den Bildungsurlaubsanspruch des Arbeitnehmers. Danach kann der Arbeitgeber den vom Arbeitnehmer beantragten Bildungsurlaub ablehnen, wenn dem dringende betriebliche Erfordernisse (HBUG) oder zwingende betriebliche oder dienstliche Belange oder Urlaubsanträge anderer Arbeitnehmer (AWbG) entgegenstehen. § 5 Abs. 2 Satz 1 HBUG sieht überdies vor, daß der Arbeitgeber Freistellungen zur Arbeitnehmerweiterbildung nicht mehr vorzunehmen braucht, sobald im laufenden Kalenderjahr mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer des Betriebes an gesetzlich vorgesehenen Bildungsveranstaltungen teilgenommen haben. Diese gesetzlichen Schranken gewährleisten bei verfassungskonformer Auslegung durch die Fachgerichte, daß die Arbeitgeber im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerweiterbildung nicht unverhältnismäßig belastet werden (vgl. ArbG Wetzlar, Urteil vom 18. Februar 1986, DB 1986, S. 1234). Den Fachgerichten obliegt es auch, bei thematisch umstrittenen Bildungsveranstaltungen zu erkennen, ob diese inhaltlich den gesetzlichen Zielvorgaben (berufliche und politische Weiterbildung) entsprechen. Der Umstand, dass es in diesem Bereich vereinzelt zu Rechtsmissbräuchen kommen kann, hat nicht ohne weiteres die Verfassungswidrigkeit der maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen zur Folge (vgl. BVerfGE 57, 70 [106]; 70, 278 [288]).

 

 

(BVerfG, Urteil vom 15.12.1987 - 1 BvR 563/85 - BVerfGE 77, 308; EzA Nr. 1 zu § 7 AWbG NW; NJW 1988, 1899).